Ansprache von Staatspräsident Martti
Ahtisaari bei der Veranstaltung "Berliner Rede" der
Partner für Berlin -Gesellschaft am 26. April 1998 im Hotel
Adlon, Berlin
HERAUSFORDERUNGEN FÜR EUROPA IM ZEITALTER
DER GLOBALISIERUNG
SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT IM WANDEL
Ihnen, Herr Bundespräsident, und den Gastgebern
dieser Veranstaltung möchte ich meinen herzlichen Dank für die
Ehre aussprechen, die zweite Berliner Rede vor diesem angesehenen
Forum halten zu dürfen. Geteiltes Berlin ist Geschichte
geworden.
Die Gastgeber dieser Veranstaltung haben einen Geist der
Zusammengehörigkeit in dieser Stadt geschaffen. Das neue Berlin
wird zur Metropole des zusammenwachsenden Europas gebaut.
Die Berliner Rede von Bundespräsident Herzog vor einem Jahr rief
lebhafte Diskussionen in der deutschen Gesellschaft hervor. In
der Rede wurden gewohnte Denkmodelle in Frage gestellt sowie
praktische Lösungen für eine Erneuerung in Wirtschaft und
Gesellschaft gesucht. Diese Rede lieb
niemanden kalt.
Die Veränderungen in Europa und in Deutschland sind miteinander
verbunden. Die Stärke der deutschen Demokratie ist eine Folge
der Fähigkeit dieses Landes, sich aufrichtig mit der
Vergangenheit auseinanderzusetzen und Verantwortung in Europa zu
tragen.
In meiner Ansprache möchte ich die Sicherheit und die
Kooperationsmöglichkeiten in Europa im Zeitalter der
Globalisierung aus finnischer Sicht einschätzen. Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa sind im Wandel begriffen. Der Kalte
Krieg ist vorbei, aber eine neue Sicherheitsordnung hat noch
nicht ihre endgültige Form gefunden. Wir befinden uns in einer
kritischen Phase. Wir müssen uns endlich von der lähmenden Zeit
der Abschreckung und der damit verbundenen Furcht verabschieden.
Nur so können wir Neues errichten.
Die Sicherheitslage Europas hat sich entscheidend verändert. Die
Gefahr eines Weltkrieges gibt es nicht mehr. Die
Sicherheitsordnung auf der Grundlage des Kräftegleichgewichts
gehört in Europa der Vergangenheit an.
Auf die Liberalisierung von Handel und Investitionen sowie auf
die technologische Entwicklung folgte eine Globalisierung der
Wirtschaft. Mit dieser Entwicklung entstehen neue Handels- und
Währungsgebiete.
Kontinente können wirtschaftliche Zuwächse verzeichnen;
Hunderte Millionen von Menschen haben sich schnell aus der Armut
gelöst, obwohl die Entwicklung nicht ausgewogen ist. Die
weltweite Interdependenz ist nun mehr denn je eine Realität.
Europa könnte ein zentraler Akteur in der neuen Weltordnung
werden. Bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konzepten mub Europa mehr eigene Kreativität zeigen.
Hierzu haben wir als multikulturelle und als uns erneuernde
Integrationsgemeinschaft gute Chancen.
Das Schicksal Finnlands war in diesem Jahrhundert entscheidend
mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Rub land beziehungsweise der Sowjetunion
verbunden.
Nach Ende des Kalten Krieges und als Folge der Integration hat
sich diese Situation verändert. Im Wettbewerb zwischen den
Nationalstaaten weichen feindselige Elemente zugunsten
konstruktiven Regelungen allmählich aus. Zur Sicherung des
Wohlstandes ihrer Bürger brauchen die Staaten einander. Für die
Stabilität Europas ist dies von entscheidender Bedeutung. Die
Grundlage der historischen Integration im Westen Europas -
Demokratie und Interdependenz - erstreckt sich somit über
unseren ganzen Kontinent.
An der Schwelle zum neuen Jahrtausend eröffnen sich
Möglichkeiten und Chancen, wie noch nie. Es kommt auf uns selbst
an, ob wir diese Gelegenheit nutzen können.
Für uns Finnen stellt Deutschland kein entferntes Europa dar.
Finnland ist immer noch ein von Martin Luther geprägtes Land.
Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner und eine der
Quellen unseres Kulturerbes.
Als Folge des Zweiten Weltkrieges nahm der Abstand Finnlands zu
Deutschland zu. Dies war mab geblich
durch Entscheidungen der Siegermächte bedingt. Der
eigenständige Weg der baltischen Staaten wurde abgeschnitten.
Die Präsenz der Sowjetmacht an der Südküste der Ostsee führte
zu Spannungen und stand natürlichen Beziehungen im Wege.
Aus der Sicht der internationalen Lage Finnlands waren die
Beziehungen zwischen uns und der Sowjetunion nach dem Krieg von
entscheidender Bedeutung.
In der Zeit des Kalten Krieges wurden diese Beziehungen durch aub enpolitische Zurückhaltung und durch
diplomatische Initiativen bewältigt. Der Vertrag zwischen
Finnland und der Sowjetunion über Freundschaft, Zusammenarbeit
und gegenseitigen Beistand entstand im Jahre 1948 in der
schwierigen geopolitischen Lage der Nachkriegszeit und er
begrenzte unsere Handlungsfreiheit. Eine Alternative für die
Unterzeichnung dieses Vertrages gab es an sich nicht, aber
Staatspräsident Paasikivi gelang es, den Inhalt des Vertrages
erträglicher zu gestalten. Im Nachhinein betrachtet ist es aber
paradox, dab dieser Vertrag auch
sozusagen eine "dämpfende Wirkung" auf die Sowjetunion
hatte. Ein Beispiel für das Meistern der Beziehungen war die
Initiative von Staatspräsident Kekkonen im Jahre 1969 über eine
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Damit wurde das sowjetische Projekt einer einseitigen
Sicherheitskonferenz abgewehrt und die Grundlage für das
KSZE-Gipfeltreffen im Jahre 1975 in Helsinki geschaffen.
Ziel unserer Neutralitätspolitik war es, ein Driften zur
Sowjetunion und weg von den westlichen Ländern zu verhindern.
Insbesondere galt dies für die Bemühungen der Sowjetunion,
Finnland zur Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik zu
bewegen. Die Neutralitätspolitik Finnlands nahm unter dem Druck
der deutschen Frage Gestalt an. Nach dem Viermächteabkommen im
Jahre 1971 über Berlin übernahm Finnland die Initiative und
schlug sowohl Bonn als auch Ostberlin Verhandlungen vor. So sahen
wir die Entwicklung voraus und hielten dem Druck stand, die DDR
vorzeitig anzuerkennen. Finnland nahm diplomatische Beziehungen
zur Bundesrepublik Deutschland und zur Deutschen Demokratischen
Republik Anfang 1972 auf.
Auf der Vorbereitungskonferenz der KSZE im Herbst 1972 in
Finnland nahmen die beiden deutschen Staaten zum ersten Mal Seite
an Seite an einer internationalen Konferenz teil.
Zwanzig Jahre später - im Jahre 1990 - nach Ende des Kalten
Krieges kündigte Finnland die überholten Verpflichtungen des
Pariser Friedensvertrages. Nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und
einige Tage vor der Wiedervereinigung Deutschlands erklärte
Finnland einseitig, dab die
militärischen Beschränkungen des Pariser Friedensvertrages aus
dem Jahre 1947 nicht mehr in Kraft waren. Zugleich stellte
Staatspräsident Koivisto fest, dab
die Hinweise auf Deutschland in dem Vertrag zwischen Finnland und
der Sowjetunion obsolet waren.
Hätten wir damals nicht so gehandelt - nämlich "rasch aber
lautlos", so die Frankfurter Allgemeine Zeitung - so hätten
die Beschränkungen der Souveränität unseres Landes
weiterbestanden, wobei Finnland ein Rest bei der Division in der
Nachlab abwicklung des Kalten Krieges
verblieben wäre.
Im Rahmen der Europäischen Union können kleine Staaten
Beschlüsse gleichberechtigt beeinflussen. Wären wir im Jahre
1995 der Europäischen Union nicht beigetreten, so wären wir
passive Zuschauer bei Aufbau und Erneuerung Europas geblieben.
Beim Beitritt Finnlands wurde die besondere Eigenart unserer
nördlichen Lage berücksichtigt.
Die Beziehungen zwischen Finnland und Rub
land haben sich zu einem natürlichen nachbarschaftlichen
Verhältnis entwickelt. Hierbei sind die Verdienste von
Staatspräsident Jelzin bedeutend. Während seines Besuchs in
Finnland im Jahre 1992 legte er in Helsinki am Denkmal der
gefallenen finnischen Soldaten einen Kranz nieder und verwies in
seiner Ansprache auf die bitteren Seiten in der Geschichte der
Beziehungen zwischen Finnland und der Sowjetunion. Er stellte
fest:
Ich zitiere:
"Mögen die Historiker alle mit den Konflikten verbundenen
Faktoren untersuchen. Ich sage offen, dab
damals direkte Versuche der Einmischung in die inneren
Angelegenheiten des selbständigen Finnlands mit weitreichenden
Absichten unternommen wurden. Als Staatspräsident Rub lands kann ich im Namen meines Volkes
versichern, dab solche Versuche nie
wieder das Verhältnis Rub lands zu
Finnland trüben werden. Wir haben diesen endgültig und für
immer abgeschworen."
Zitat Ende.
Während meines Besuchs in Moskau im Jahre 1994 verurteilte
Staatspräsident Jelzin den Angriff Stalins auf Finnland im Jahre
1939 als Unrecht.
Die Stellungnahme Jelzins zum wundesten Punkt unserer gemeinsamen
Geschichte hatte für uns Finnen eine grob
e psychologische Bedeutung. Die ehrliche Auseinandersetzung mit
der Geschichte war wichtig auch für die Russen, die ihre hinter
den Wahrheiten des Kommunismus verborgene eigene Geschichte erst
in den neunziger Jahren offen kennenlernen konnten. Eine
kritische Beurteilung der eigenen Geschichte ist für alle
Völker unabdingbar.
Die Beendigung des Kalten Krieges hatte für die internationale
Lage Finnlands und Deutschlands ähnliche Konsequenzen. Unser
internationales Umfeld wurde entscheidend verändert: aus den
Ruinen des Sowjetimperiums entstand ein seine Wurzeln suchendes
und sich erneuerndes Rub land. Die
baltischen Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit wieder und das
freie Polen ist Nachbar des wiedervereinigten Deutschlands. Die
Ost-West-Konfrontation wurde sowohl in Mittel- als auch in
Nordeuropa beendet. Dadurch waren Voraussetzungen für den
Beitritt Finnlands zur Europäischen Union gegeben.
Der Aufbau einer stabilen europäischen Sicherheitsordnung ist
allerdings noch nicht vollendet.
Eine zunehmende Verantwortung kommt der Stabilitätspolitik - der
wirtschaftlichen und politischen Integration Europas - zu. Die
Erweiterung der Europäischen Union und die Entstehung eines
Euro-Währungsgebiets nehmen hierbei eine Schlüsselstellung ein.
Es darf keine vergessenen Länder in Europa geben. Die Türen der
Europäischen Union sind für alle Staaten Europas offen, die die
Anforderungen der Gründungs- und Folgeverträge erfüllen.
Die Erweiterung der Europäischen Union in der Zeit nach dem
Kalten Krieg begann im Jahre 1995 im Norden. Jetzt wird die
Erweiterung in Richtung Osten fortgeführt. Der Beitritt von drei
EFTA-Mitgliedstaaten - Finnland, Österreich und Schweden - in
die EU war ein kleiner wirtschaftlicher Schritt aber ein grob er politischer Schritt. Der Beitritt der
neuen Demokratien zur Europäischen Union ist ein langer
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozeb
, aber bereits ein politisches Faktum.
Die Europäische Union stellt den weitaus wichtigsten
Handelspartner Rub lands dar. Bald die
Hälfte des russischen Aub enhandels
entfällt auf die EU. Das neue Rub
land ist viel stärker vom Aub
enhandel abhängig als dies je der Fall mit der Sowjetunion war.
Kennzeichnend für das politische System in Rub
land ist die überlegene Stellung des Staatspräsidenten. Das
Land ist jedoch im Begriff, ein Staat der Territorialeinheiten zu
werden, was durch die Direktwahl der Gouverneure gestärkt wurde.
Somit ist auch eine einflub reiche
zweite Kammer der Volksvertretung entstanden.
Die Handlungsfreiheit der Territorialeinheiten ist gröb er geworden, aber auch die Unterschiede
bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung haben zugenommen. Einige
Territorialeinheiten verzeichnen bereits seit mehreren Jahren
Zuwächse. Die überwiegende Mehrheit befindet sich aber immer
noch im Circulus vitiosus der sinkenden Produktion und der
zurückgehenden Investitionen. Eine schnelle Veränderung dieser
Entwicklung ist nicht in Sicht und ein erheblicher Teil der
Bevölkerung lebt in wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Die Regierung Finnlands hat der Europäischen Union eine Politik
der Nördlichen Dimension vorgeschlagen. Die Nördliche Dimension
ist ein Sammelbegriff für Mab nahmen,
durch die die Handlungsperspektiven in der EU erweitert werden.
Die Nördliche Dimension der Europäischen Union bedeutet eine
intensivierte Europa-Dimension für Rub
land, was auf einer starken und zunehmenden wirtschaftlichen
Abhängigkeit basiert. Der beste Ausdruck hierfür sind die
Verkehrsströme über die Ostsee und die zunehmende Abhängigkeit
Europas von Importenergie.
Der künftige Gasbedarf in Europa kann am besten mit Hilfe Rub lands gedeckt werden. Der Markt für die
Erdgasressourcen Nordrub lands ist
Europa. Die Verflechtung wirtschaftlicher Interessen fördert die
Stabilität.
Nirgends ist die wirtschaftliche Interdependenz so wichtig für
die Stärkung der Sicherheit in Europa wie im Ostseeraum. Bei
dieser Entwicklung spielt die Präsenz und Erweiterung der EU
eine zentrale Rolle. Der Beitritt von Estland und Lettland zur
Europäischen Union könnte die Zukunft der russischsprachigen
staatenlosen Bevölkerung in diesen Ländern garantieren. Das
europäische Normensystem setzt eine gerechte Behandlung von
Minderheiten voraus. Ich kann mir auch keine bessere
Unterstützung für eine stabile Zukunft von Kaliningrad in der
europäischen Kooperation vorstellen als die Erweiterung der
Europäischen Union.
Der Handel Finnlands und der anderen nordischen Länder mit den
baltischen Staaten sowie ihre Investitionen haben stark
zugenommen. Während Finnland Anfang der neunziger Jahre aus
natürlichen Gründen ausdrücklich an Estland interessiert war,
richtet sich unser Interesse nunmehr auf alle baltischen Staaten.
Ein wichtiger Schwerpunkt liegt in der Verbesserung der
Grenzkontrollen dieser Länder.
Vor einiger Zeit war ich in der Ukraine. Wir wissen sehr wohl,
welche schwierige Geschichte das ukrainische Volk und sein
fruchtbares Land hinter sich haben. Der Platz der Ukraine ist in
Europa der Erweiterung. Die Ukraine befindet sich auf dem Weg in
die Marktwirtschaft, sie benötigt aber Unterstützung und
Freunde. Sie benötigt es von überall, auch von Rub land. Die Ukraine braucht funktionierende
Handelsbeziehungen in alle Richtungen.
Die Sicherheit Europas mub in
zunehmendem Mab e auf einer
Stabilität basieren, die heute durch eine wirtschaftliche und
politische Integration entsteht. Hierbei hat die EU eine
Schlüsselfunktion. Die Stärkung der militärischen Sicherheit
unseres Kontinents mub auf defensiven
Konzepten und auf einer ausgewogenen Reduzierung der Rüstung
basieren. Zugleich hat jedes Land das Recht auf eigene
sicherheitspolitische Konzepte.
Finnland hat sich für die militärische Bündnislosigkeit
entschieden. Unsere Wahl beruht auf historischer Erfahrung und
auf sicherheitspolitischen Überlegungen. Die Stellung Finnlands
ist stärker geworden und unsere sicherheitspolitischen Konzepte
fördern die Stabilität im Ostseeraum aber auch generell in
Europa.
Wir beteiligen uns an Operationen der Friedenssicherung etwa in
Bosnien und Mazedonien, wir arbeiten mit der NATO zusammen und
gestalten eine gemeinsame Aub en- und
Sicherheitspolitik der EU mit.
Die Sicherheitsinstitutionen Europas sind der neuen Zeit angepab t worden. Die Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, die OSZE, ist immer noch die
einzige Organisation in Europa, in der sämtliche Staaten Europas
sowie die Vereinigten Staaten und Kanada vertreten sind. Die
Umgestaltung der NATO mit Schwerpunkt auf Krisenmanagement ist
ein wesentlicher Schritt bei der Schaffung einer neuen
Sicherheitsarchitektur. Gleichzeitig wird die NATO erweitert,
wobei sie für alle Demokratien in Europa offen ist. Die
Zusammenarbeit zwischen der sich erneuernden NATO und Rub land ist ein wesentlicher Bestandteil der
neuen Sicherheitsordnung.
Setzt sich die Entwicklung in diese Richtung fort, so entstehen
Voraussetzungen für einen auf Interdependenz basierenden
europäischen Sicherheitsraum und grob
angelegte Reduzierungen der Waffenarsenale.
Die im ehemaligen Jugoslawien eingeleitete Operation zur
Friedenssicherung und Stabilisierung - die noch Jahre andauern
wird - ist ein konkretes Beispiel für die Möglichkeiten einer
militärischen Zusammenarbeit im neuen Europa. Hier kommen wir
zum Kern der sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa. Es ist
wichtig, künftig eine sicherheitspolitische Ordnung dieser Art
zu entwickeln. Hiermit ist eine effiziente und praktische
Zusammenarbeit zwischen allen wichtigen Organisationen für
Sicherheit und Stabilität sowohl im Planungsstadium als auch in
Krisenszenarien verbunden.
Die Vereinigten Staaten haben zur Führungsfähigkeit und zum
Kräfteeinsatz der NATO bei den bisher schwierigsten Aufgaben des
Krisenmanagements in Bosnien einen mab
geblichen Beitrag geleistet. Die NATO ist ein zentrales Organ, da
dort der atlantische und europäische Beitrag aufeinander
abgestimmt werden. Im Einklang hiermit steht es, dab die Europäische Union zusammen mit der
Westeuropäischen Union, der WEU, eine glaubhafte
Handlungsfähigkeit aufbaut und die ihr zukommende Verantwortung
bei Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in Europa trägt.
Der Vertrag von Amsterdam liefert die Elemente für eine
effiziente sicherheitspolitische Rolle der Europäische Union.
Neue Sicherheitsgefahren sind eine Realität in Europa. Ein Mib brauch von Freiheiten, Rechten und
Möglichkeiten, die ein Europa ohne Grenzen bietet, mub verhindert werden.
Die organisierte Kriminalität stellt eine besondere Gefahr für
die neuen und verwundbaren Demokratien Mittel- und Osteuropas
dar. Nationale Mittel reichen nicht aus. Wir brauchen eine
Strategie der inneren Sicherheit der Union und einen eng damit
verbundenen, die Aub engrenzen
übergreifenden Mechanismus der Zusammenarbeit. Aus der Sicht der
Bürger ist dies in der Tat vielleicht die gröb te Herausforderung und Aufgabe der EU.
Aus diesem Grunde brauchen wir auch eine intensivierte Kontrolle
der Aub engrenzen der Europäischen
Union. Für Finnland und Deutschland als gegenwärtige Länder an
diesen Aub engrenzen ist dies eine grob e Aufgabe - ganz zu schweigen von den
Beitrittskandidaten, für die dies eine wesentliche Bedingung der
Mitgliedschaft ist.
In der veränderten Situation kann die Bedeutung einer die Aub engrenzen der Union übergreifenden
Zusammenarbeit nicht genug betont werden. Finnland verfügt über
positive Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit den
Grenzbehörden in seinem nahen Umfeld. Diese Zusammenarbeit im
Ostsee- und Barentseeraum wird noch weiter intensiviert. Solche
Formen der Nördlichen Dimension könnten auch in anderen
Gebieten der Union Anwendung finden.
Die Auswirkungen der Osterweiterung der EU werden schnell - und
bereits vor der tatsächlichen Mitgliedschaft - in ganz
Mitteleuropa sichtbar. Durch den Beitrittsprozeb übernehmen die beitrittswilligen Länder
schrittweise den gemeinschaftlichen Besitzstand der Union. Dies
bedeutet eine Verschiebung der normativen Grenzlinie bis zu den
Ostgrenzen der baltischen Staaten und Polens. Es ist eine
paradoxe Situation entstanden.
Die Trennlinien aus der Zeit des Kalten Krieges sind beseitigt
worden, aber dennoch wird von neuen Grenzhindernissen gesprochen.
Die Aub engrenze der Union darf nicht
zum neuen eisernen Vorhang werden.
Für die Wahrung der inneren Sicherheit gibt es effiziente
Instrumente. Die Visumspraxis der Union ist Teil ihrer Strategie
der inneren Sicherheit. Rückübernahmeabkommen spielen hierbei
eine beachtliche Rolle. Bei unseren Bemühungen, die Sicherheit
der Bürger der Union durch die Stärkung der Kontrollen an den
Aub engrenzen zu erhöhen, bieten wir
den Bürgern aus Ländern aub erhalb
der Union zugleich freie Bewegungsmöglichkeiten im gesamten
Unionsgebiet. Durch die Nutzung von Technologie können
Grenzkontrollen und Gewährung von Visa gefahrlos intensiviert
werden. Hierfür kann Finnland ein funktionierendes Modell
bieten.
Die Stellung der Europäischen Union in der internationalen
Gemeinschaft wird an der Jahrtausendwende mehr Klarheit und
Bedeutung gewinnen. Dies ist eine Konsequenz der Entstehung des
Euro-Währungsgebiets. Die demnächst anstehenden Beschlüsse
über den Euro werden in Europa aber auch auf internationalen
Geldmärkten Stabilität schaffen. Die Europäische Union mub zugleich ihr eigenes Modell der sozialen
Verantwortung und der Solidarität weiterentwickeln. Dies ist zur
Abmilderung marktwirtschaftlicher Störungen und Ungleichgewichte
erforderlich. Auf dieser Grundlage hat die EU an internationalen
Verhandlungen teilzunehmen - sowohl bei der Liberalisierung des
Handels und der Investitionen als auch etwa beim Umweltschutz.
Aub erdem ist zu erwarten, dab die Rolle der EU bei Lösung und
Bewältigung internationaler Krisen gestärkt wird.
Die Europäische Union ist zum wichtigsten Förderer der
Verhandlungen über die Liberalisierung des Welthandels und der
Investitionen geworden. Die Europäische Union spielt eine immer
mehr ausschlaggebende Rolle bei der Erweiterung der
Welthandelsorganisation, der WTO. Zur Sicherung einer
ausgewogenen Entwicklung der Weltwirtschaft ist der Beitritt von
Staaten wie China, aber auch Rub land
und der Ukraine, in die WTO unerläb
lich. Nur eine ausreichend umfassende und handlungsfähige WTO
kann Handelskriege und einseitige wirtschaftliche Sanktionen
verhindern.
Die Europäische Union hat Gespräche zur Schaffung eines Neuen
Transatlantischen Marktes mit den Vereinigten Staaten
eingeleitet. Nach Entstehung des Euro-Währungsgebiets ist es
wichtig, dab die Europäische Union
einen Währungsdialog mit anderen grob
en Währungsgebieten führt, wie mit den Vereinigten Staaten und
Japan. Es mub ebenfalls geklärt
werden, wie die Vertretung der EU in Fragen des
Euro-Währungsgebiets erfolgen soll. Jedes Land, das in dieser
Zeit die Präsidentschaft der EU innehat - Finnland im zweiten
Halbjahr 1999 - ist verpflichtet, die Verantwortung für die
Verhandlungen über das Euro-Währungsgebiet mit zu übernehmen.
Es mub ebenfalls geprüft werden, wie
die währungspolitische Zusammenarbeit optimal geregelt wird.
Ich frage mich oft: Warum nutzen wir die EU nicht noch gezielter
zur Wahrnehmung unserer Interessen in der internationalen
Gemeinschaft? Liegt es daran, dab wir
Angst haben, unsere nationale Souveränität auf dem Altar
unserer gemeinsamen Politik zu verlieren? Können wir aber unsere
Souveränität verlieren, wenn Europa sich nur auf diese Art in
Fragen Gehör verschaffen kann, über die sonst andere
entscheiden würden? Dies sollte nicht nur der Ansatz eines
bevölkerungsmäb ig kleinen Landes
sein.
Meine Antwort auf diesen mangelnden Willen ist, dab uns ganz einfach ein ausreichendes
Verständnis der gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen
fehlt. Wir sollten jedoch unser Verständnis darüber vertiefen,
was uns verbindet.
Oder sind wir denn nicht zur Zusammenarbeit fähig, ohne einem
Druck durch äub ere Gefahren
ausgesetzt zu sein? Ich glaube jedoch, dab
Europa - infolge der Globalisierung - vor einer neuen Gefahr
steht, nämlich der Gefahr einer introvertierten Betrachtung
lediglich europäischer Sicherheitsprobleme. Die Europäische
Union sollte sich aber verstärkt an Verhandlungen zur Lösung
globaler Probleme beteiligen - und zwar im eigenen Interesse
Europas.
In dieser Hinsicht ist Europa im Begriff, seine
Handlungsfähigkeit zu verbessern. Diesbezüglich fab ten die Staats- und Regierungschefs bei
der Tagung des Europäischen Rates in Amsterdam wichtige
Beschlüsse. Hierdurch verstärkt sich die Fähigkeit der Union,
Initiative in der internationalen Politik zu ergreifen.
Ich bin davon überzeugt, dab die
internationale Zusammenarbeit zur Festigung der Sicherheit somit
erheblich verbessert wird - und zwar nicht nur in Europa, sondern
weltweit.
Europa ist durch seine Werte und Kultur allgegenwärtig. Die
schwere Geschichte unseres Kontinents hat jedoch die politische
Bedeutung Europas in diesem Jahrhundert geschmälert. Das
wirtschaftliche Gewicht der Europäischen Union nimmt zu, die
Union erweitert sich und wird gestärkt. Europa nimmt seinen
Platz in der Weltgemeinschaft ein. Die Europäische Union ist im
Begriff, die Rolle als zuverlässiger Förderer einer
konstruktiven weltweiten Zusammenarbeit einzunehmen.
Entscheidend ist, dab auf unserem
Kontinent keine neuen, Feindseligkeiten schürenden Trennlinien
und auch keine Polarisierungen zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen entstehen. Europa auf der Grundlage des
militärischen Wettbewerbs zwischen Nationalstaaten bot keine
Sicherheit. Dies gilt auch für das geteilte Europa.
Ein Europa der Sicherheit ist ein zusammenwachsendes Europa der
Interdependenz. Ein solches ist nun im Entstehen.
Für dieses Europa müssen wir uns - meine Damen und Herren -
gemeinsam einsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.